Während des Konstanzer Konzils vertrieben sich die Menschen ihre Zeit mit Aktivitäten, die uns heute sonderbar erscheinen. Nach der Flucht des Papstes Johannes XXIII. und während der diplomatischen Reise König Sigismunds, waren die Gelehrten der Universitäten aus ganz Europa erst so richtig in ihrem Element: In der freien Zeit, die sie hatten, konnten sie sich auf Bücherjagd begeben. Sie entdeckten bedeutende Schriften der Antike wieder, die als verschollen galten und kopierten diese in mühsamer Handarbeit. Dadurch fand in Konstanz zu Beginn des 15. Jahrhunderts ein enormer Wissensaustausch statt. Es entwickelte sich ein Text- und Handschriftenmarkt für Gelehrte, die als Notare, Schreiber, Referendare oder Korrektoren Arbeit fanden und die in papstloser Zeit auch als „Bücherjäger" tätig waren.

Ihre „Jagdreviere" waren Klosterbibliotheken der Region. Dem Fund folgte eine „Befreiungsaktion", die Schriften wurden erworben, abgeschrieben oder sogar entwendet. In vielen europäischen Bibliotheken findet man noch heute Handschriften, deren Besitzvermerke auf das Konstanzer Konzil Bezug nehmen.

Einer dieser Bücherjäger war der ehemalige Papstsekretär Poggio Bracciolini, der an einem kalten Wintertag 1417 in der nahen Klosterbibliothek St. Gallen das Meisterwerk „Von der Natur" des antiken Dichters Lukrez wiederentdeckte. In diesem Moment begann laut dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt der Umbruch in eine neue Zeit. In seinem sehr lesenswerten Roman „Die Wende – Wie die Renaissance begann", den er 2011 veröffentlichte, lässt er Bracciolini zum Helden der Geschichte werden, der mit seiner Entdeckung den Menschen des Mittelalters neue Horizonte eröffnete. Die modernen Vorstellungen Lukrez' über Fragen des Ursprungs und der Materie, zum Sinn und Genuss des Lebens, bildeten im 15. Jahrhundert einen Kontrast zur mittelalterlichen Weltsicht.

Poggio Bracciolini war Humanist und gehörte damit zur damaligen Bildungselite, die es sich zur Aufgabe machte, Grammatik, Rhetorik, Poesie, Philosophie und Geschichte zu studieren und zu lehren, mit der Absicht, antikes Wissen zu bewahren und zu verbreiten. Grundlegend hierfür war die erste griechische Grammatik des Gelehrten Manuel Chrysoloras, der während des Konzils auch zu Gast in Konstanz war. Antikes Wissen konnte nun aus dem Griechischen übersetzt und verbreitet werden. Chrysoloras war ein angesehener Diplomat und Humanist aus Konstantinopel, auf den große Hoffnungen gesetzt wurden, das jahrhundertealte Schisma zwischen Ost- und Westkirche zu überwinden.

Auch Leonardo Bruni gehörte zu dieser Generation von Humanisten. Während seines Aufenthaltes in Konstanz machte er sich auf die Suche nach dem Ursprung der Stadt und wurde tatsächlich fündig: In die Mauer der noch heute erhaltenen Mauritius-Rotunde des Konstanzer Münsters war eine Steintafel eingelassen, in die der Name des vermeintlichen Stadtgründers Constantius I. eingraviert war. Fassungslos berichtet Bruni davon, dass kein Konstanzer fähig war, die lateinische Inschrift zu lesen und wie die Bevölkerung dieses Zeugnis der Antike stattdessen abergläubisch einer Reliquie gleich verehrte, indem sie die Hände daran rieben und sich dann über das Gesicht fuhren. Die „ungebildete" Konstanzer Menge stellt einen körperlichen Kontakt mit der geheimnisvollen Tafel her, der Humanist hingegen geht auf Distanz und entziffert den Text. Bruni war der Meinung, dass die Zivilisation in Deutschland nicht besonders weit vorangeschritten war und dass er es hierzulande mit regelrechten Barbaren zu tun hatte.

Die italienischen Humanisten waren gut vernetzt und führten einen regen Briefwechsel in lateinischer Sprache. Verbreitet wurden wiederentdeckte Schriften entweder von Hand zu Hand oder mithilfe der „Pronuntiatio", einem öffentlichen Gruppendiktat, das vor der Erfindung des Buchdrucks für eine rasche Vervielfältigung sorgte.

Bracciolini gilt auch als Erfinder der humanistischen Schriftart, der sogenannten „Antiqua". Ihm ging es dabei nicht nur um Klarheit und gute Lesbarkeit, sondern auch um Stil und Eleganz der Schrift. Unbewusst schuf er damit eine erste grafische Grundlage für den Buchdruck mit beweglichen Lettern, der rund 50 Jahre nach dem Konzil eingeführt wurde. Auch Chrysoloras' griechische Grammatik fand durch das neue Druckverfahren rasche Verbreitung.

Das Konstanzer Konzil war ein universales Ereignis, das weit über die Grenzen der Region ausstrahlte. Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni und Manuel Chrysoloras haben mit ihrer Arbeit auf dem Konzil Bleibendes geschaffen, womöglich den Grundstein für den Umbruch in eine neue Zeit gelegt – den Beginn der Renaissance. (N.M.)

 

 

Die Stiftsbibliothek St. Gallen ist die älteste Bibliothek der Schweiz und war Anlaufpunkt für zahlreiche „Bücherjäger" während des Konzils ©Stiftsbibliothek St. Gallen