Anna und Johann laden nach Konstanz ein
„Anna! Anna – komm!" Johann greift nach der Hand seiner kleinen Schwester und zieht sie von dem Marktstand weg. Sie müssen weiter, Fleisch einkaufen. Als sie bei einem Metzger einen Bärenkopf liegen sehen, gehen sie schnell zum nächsten Stand.
Schon bald hat Anna den Bär vergessen und lässt sich mit ihrem Bruder durch das Getümmel auf dem Markt vor der St. Stephanskirche treiben. Was es hier alles gibt! Den beiden läuft das Wasser im Mund zusammen. Hier holt ein Bäcker frisches Brot aus dem Ofen, ein Stück weiter gibt es Obst und Gemüse, das die Frauen früh morgens von den umliegenden Dörfern in die Stadt getragen haben. Auch Fisch, Käse und Wein werden von den geschäftigen Händlern zum Kauf angeboten.
Die Geschwister ziehen weiter. Anna kann den Blick nicht von den farbenprächtigen Wappen, die über den Türen hängen, abwenden. Wer hier wohl wohnt? Johann bleibt wenige Schritte weiter stehen und lauscht den Menschen, die sich lautstark unterhalten. Woher kommen Sie nur? Wie komisch sie gekleidet sind!
Anna ärgert sich ein wenig, dass sie letzte Woche zuhause helfen musste. Seitdem erzählt Johann ihr die ganze Zeit von den Gewändern und langen Bärten der griechischen Gelehrten, die er gesehen haben will. Irgendwie hat das anscheinend mit diesem Konzil zu tun, von dem der Vater gestern erzählt hatte. Wenn sie es noch richtig wusste, dann trafen sich alle diese Menschen, weil es seit langer Zeit nicht mehr nur einen sondern gleich drei Päpste gab. Und weil das nicht so weitergehen konnte, hatte König Sigismund zu einer großen Versammlung aufgerufen. Immerhin war seitdem auch die Stimmung zuhause besser:
Seit dem Sommer hatte der Vater von Anna und Johann nun wieder Arbeit und war mit anderen Zimmerleuten dafür zuständig, das Kaufhaus am Hafen umzubauen. Allerdings nicht um darin mehr zu lagern – wie es sich Johann gedacht hatte –, sondern weil dort der neue Papst gewählt werden sollte!
Mittlerweile ist es November geworden. Es regnet viel und es ist nebelig. Anna will das Haus am liebsten nicht verlassen, Johann aber hält es drinnen nicht aus. Seit drei Tagen schon beobachtet er die tägliche Prozession von fast 200 Sängern, darunter viele Kinder, die zum Kaufhaus am Hafen ziehen und ganz wunderbar singen.
„Anna, Anna!" ruft Johann aufgeregt, „Komm!" Anna schnappt sich ihren Umhang, lässt die Aufgaben, die sie erledigen soll, liegen und rennt zu ihrem Bruder auf die Gasse. Johann kann vor lauter Rennen schon fast nicht mehr sprechen und deutet nach oben. Was die beiden sehen, ist unglaublich: 2.000 Vögel, darunter Buchfinken, Meisen, Zeisige, Blaumeisen und Dompfaffen, fliegen hinunter zum Hafen und setzen sich auf das Dach des Kaufhauses.
„Was hat das zu bedeuten?" fragt Anna erstaunt. Doch Johann ist es längst klar: Der Papst ist gewählt! Am Nachmittag beobachten Anna und Johann aus der ersten Reihe die feierliche Prozession des neuen Papstes und seiner Wähler zum Münster. Sie können sogar einen Blick auf König Sigismund erhaschen, der das Maultier des Papstes eigenhändig am Zügel durch die Stadt führt.