Das zweite Jahr des Konziljubiläums, 2015, steht unter dem Motto „Jahr der Gerechtigkeit“. Was aber ist eigentlich Gerechtigkeit? Wer legt fest, was als gerecht gilt? Wieso, wodurch und wie verändert sich das?

Was als gerecht empfunden wird, ist nicht nur regional unterschiedlich, sondern immer auch historisch und kulturell beeinflusst und unterliegt einem starken Wertewandel. Im europäischen Mittelalter galt die Auffassung, dass der Mensch nicht über alles richten und urteilen könne. Der letztgültige Schiedsspruch wurde oft Gott überlassen. Aus dieser Vorstellung stammt das für uns heute oft nur schwer nachvollziehbare „Gottesurteil“, bei dem beispielsweise durch eine Wasser- oder Feuerprobe die Schuld oder Unschuld eines Menschen überprüft werden sollte. Das endete in der Regel mit dem Tod des Angeklagten.

Was aber galt zur Zeit des Konstanzer Konzils als gerecht? Ulrich Richental berichtet, dass alle nach Konstanz kommenden Personen das Bürgerrecht erhielten, um unter denselben Bedingungen Handel treiben und in der Stadt agieren zu können wie die Einheimischen. Für mittelalterliche Verhältnisse war das keineswegs selbstverständlich. Üblicherweise erhielten nur die in der Stadt ansässigen Bürger dieses Recht – auswärtige Händler wurden mit hohen Abgaben und Zöllen belegt. Die neue Regelung war nicht ganz frei von Eigennutz: Ohne die Handwerker und Gewerbetreibenden von außerhalb hätte die Stadt die Versorgung der zahlreichen Konzilsteilnehmer nicht bewältigen können.

In der Konzilschronik wird auch von einigen Delikten berichtet, wie beispielsweise von Überfällen durch den Raubritter Jörg von End, der daraufhin in der Stadt gefangengesetzt wurde. Sein in die Überfälle involvierter Knecht konnte zwar fliehen, wurde aber auf der Flucht gefasst und einfach in den See geworfen und ertränkt – ohne dass ein Prozess stattgefunden hätte. Der Raubritter selbst wurde wieder freigelassen, seine Burg Grimmenstein jedoch in Brand gesetzt und anschließend geschleift. Eine mittelalterliche Form ausgleichender Gerechtigkeit?

Die heute oftmals als soziale Ungerechtigkeit empfundene Armut hingegen galt zur Konzilzeit eher als unabänderliches Schicksal und vorherbestimmte Lebenslage und wurde damit nicht grundsätzlich als Ungerechtigkeit gesehen. Auch dass eine Frau in öffentlichen Angelegenheiten nicht für sich selbst sprechen konnte, sondern einen männlichen Vormund brauchte, der ihrem Anliegen Gewicht verlieh, entsprach den religiös begründeten Rechtsvorstellungen. Gleichzeitig gab es auch damals bereits zahlreiche Abweichungen von der Norm – Witwen wurde generell ein größeres Maß an Eigenständigkeit zugestanden. Auch die als besonders abhängig geltenden Nonnen wurden beispielsweise vor Gericht selbst vorstellig und dort auch ernst und für voll genommen, ohne dass sie durch einen männlichen Vorstand vertreten worden wären.

Was zu welcher Zeit und an welchem Ort als gerecht gilt, hängt also von zahlreichen Faktoren ab und eine Beurteilung längst vergangener Zustände sollte nur vorsichtig gemacht werden. Ein Nachdenken über Gerechtigkeit sollte sich vielmehr der Vergangenheit bewusst, aber in die Zukunft gerichtet sein.(T.R.)

 

Bilder:

Links: Der heutige Obermarkt war im mittelalterlichen Konstanz die Richtstätte der Stadt, auf der auch der Pranger stand.

Rechts: Es ist sehr umstritten, inwieweit Jan Hus` Prozess gerecht oder ungerecht war. © Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg