3. Auflage des erfolgreichen Musikfestivals vom 30.09. bis 3.10.2016
Ein Interview mit Prof. Dr. Stefan Johannes Morent

Prof. Dr. Stefan Johannes Morent, Musikwissenschaftler und Musiker, Spezialist für die Musik des Mittelalters, lehrt am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tübingen und spielt mit seinem Ensemble „Ordo Virtutum" zahlreiche Konzerte. Zusammen mit Dr. Anette Sidhu-Ingenhoff/SWR konzipiert er das Festival „Europäische Avantgarde um 1400", das von 2014 bis 2018 jährlich vier Konzerte mit Musik aus der Zeit des Konstanzer Konzils präsentiert. Er ist außerdem künstlerischer Berater des Festivals für Musik des Mittelalters „Via Mediaeval" in Rheinland-Pfalz.

Kurz vor Beginn des Festivals konnte Andrea Kling aus dem Team der Konzilstadt Konstanz dem Spezialisten für Musik des Mittelalters einige Fragen stellen.

 

Musikerleben – heute und damals

Bereits zum dritten Mal findet das Musikfestival „Europäische Avantgarde um 1400" statt. Die Musiker kommen 2016 aus Russland, den USA, der Türkei und den Niederlanden. Gab es zu Zeiten des Konzils bereits „Tourneen"? Wie sind die Musiker damals gereist?

Oh ja, Musiker reisten auch im Mittelalter schon durch die ganze damals bekannte Welt, vor allem im Gefolge ihrer Herren und Mäzenen als Mitglieder von Hofkapellen oder als Spielleute. Mit Musikern demonstrierten die Herren ihren Macht- und Repräsentationsanspruch. Deshalb mussten die Musiker ihnen auf allen Reisen quer durch Europa folgen. Gerade die Stadt Konstanz war während des Konzils ein musikalischer „Hotspot": Zum ersten Mal trafen hier Musiker aus ganz Europa aufeinander, hörten, inspirierten und beeinflussten sich gegenseitig. Konstanz war zur Konzilzeit außerdem eine Art „Jobbörse": Viele Musiker wechselten hier ihre Dienstherren oder fanden neue Engagements.

Instrumente sind heute wie damals unerlässlich für den Erfolg von Konzerten und Musikern. Welchen Wert hatten die Instrumente von damals?

Den Vorrang hatte damals – wie noch lange Zeit – die Vokalmusik, vor allem die geistliche Musik, gerade bei einem Ereignis wie dem Konstanzer Konzil, das ja von vielen liturgischen Feiern mit entsprechender Musik begleitet wurde. Aber auch Instrumentalmusik hatte ihren Platz: Zur Unterhaltung der weltlichen und geistlichen Herren, zum Tanz und mit Trompeten und Trommeln auch zur Demonstration von Macht und Herrschaft.

Welche Instrumente gab es denn im Mittelalter, die wir auch heute noch kennen?

Im Prinzip gab es während der Zeit des Konzils bereits die Vorläufer auch heute noch bekannter Instrumente: Leisere Instrumente, die vor allem in der „Kammer", also in Innenräumen, erklangen waren die Fiedel (Vorläufer der Geige), die Harfe (etwas kleiner als die heutige Konzertharfe), Block- und Querflöten und die Laute. Für die laute Musik im Freien gab es Zugtrompete und Busine (Vorformen von Trompete und Posaune), Schalmei und Pommer (Vorläufer der Oboe) und natürlich verschiedenes Schlagwerk.

 

Der Beruf „Musiker"

Musiker ist ein nicht immer leichter und lukrativer Beruf. Wie sah es zu Konzilzeiten aus? Waren die Musiker „Freiberufler" oder „Festangestellte" – gab es Superstars?

Es gab damals schon die ganze Bandbreite: Von fahrenden Spielleuten und Gauklern, die sich ihren Lebensunterhalt in den Gassen der Stadt verdienen mussten, über angestellte Musiker, wie etwa die Stadtpfeifer der Stadt Konstanz, bis hin zu wirklichen „Superstars". Ein solcher war der bereits erwähnte Guillaume Dufay, der wahrscheinlich als junger Musiker in Konstanz war, dort bereits erste Kontakte für seine spätere, steile Karriere knüpfen konnte und dann zu einem gefeierten Star in ganz Europa wurde – mit Spitzengehalt, versteht sich!

Werfen wir einen kurzen Blick auf 2018: Dann wird sich in Konstanz alles um Oswald von Wolkenstein drehen. Heute würden wir ihn als „Multijobber" bezeichnen. Verhalfen ihm seine Talente denn zu viel Reichtum?

Auch wenn Oswald von Wolkenstein heute sehr populär ist: Zu seinen Lebzeiten gehörte er nicht zur Elite der professionellen Komponisten, wie etwa Dufay. Das wollte er aber auch gar nicht sein. Er war ein Adliger, der seinen Besitz verwaltete, seine Geschäfte betrieb und vor allem während des Konzils in diplomatischen Diensten von König Sigismund stand. Er führte aber auch die Tradition der Dichter-Musiker fort, wie sie bereit seit dem Minnesang bekannt ist. Höfische Liebesdichtung gehörte mit zum Ausbildungskanon der Adligen jener Zeit. Oswald hatte ganz besonderes Talent, internationale Einflüsse aus Italien und Frankreich, die er während des Konzils hören konnte, wie ein Schwamm aufzusaugen und für seine eigenen Lieder fruchtbar zu machen. Diese zeugen von großer Auffassungsgabe, Kenntnisse über Musik und einem Sprachwitz, auf den er zurecht stolz war und deswegen er heute noch so bekannt und beliebt ist.

Wie wurde man denn eigentlich Musiker in der Konzilzeit?

Die meisten professionellen Musiker jener Zeit starteten ihre berufliche Karriere bereits als Knaben im Chor einer Kathedrale. Geistliche Vokalmusik hatte den obersten Rang und so waren alle großen Komponisten und Leiter der Hofkapellen professionelle Sänger. Im Heranwachsen wurde man mit den Musikstilen und der Kompositionskunst vertraut und konnte später selbst als Komponist hervortreten – sofern man eine Anstellung an einem Hof fand. Die „Superstars" konnten es sich leisten, finanzielle Forderungen zu stellen und auch bei besseren Angeboten von einem Hof an einen anderen zu wechseln. Es gab aber auch die ganz einfachen Spielleute und Unterhaltungsmusiker, die Musik nicht nach Regeln, sondern meist aus einer Familientradition heraus mündlich erlernten und ständig schauen mussten, wie sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen konnten – ähnlich wie Straßenmusiker.

 

Notation

Keine Musik ohne die passenden Noten. Das Ensemble Cappella Pratensis singt aus besonders großen Chorbüchern. Gab es denn 1414 bereits Noten und war es üblich nach Noten zu musizieren?

Die nach Regeln komponierte „Kunstmusik" jener Zeit wurde bereits seit dem 12. Jahrhundert in Notation festgehalten. Allerdings entwickelten sich diese Formen laufend weiter, um etwa die immer komplexer werdende Rhythmik der Musik um 1400 genau aufzeichnen zu können. Die avanciertesten Kompositionen dieser Zeit können es in Hinblick auf die Ansprüche der Notation durchaus mit den hochkomplexen Partituren unserer heutigen „modernen" Musik aufnehmen. Unterhaltungs- und Tanzmusik wurden jedoch meist ganz ohne Noten nach alten Traditionen improvisiert.

 

Musik in unterschiedlichen Regionen

Haben sich in verschiedenen Regionen unterschiedliche Musikkulturen herausgebildet?

Es gab zwar damals einen in ganz Europa verbreiteten gemeinsamen Stil für die Kunstmusik. Dennoch existierten regionale Unterschiede: So zum Beispiel in England, das für seine „süße", „engelsgleiche" Musik mit vielen Terzen und Sexten als wohlklingende Intervalle berühmt war. Auch der Konstanzer Konzilchronist Ulrich Richental beschreibt diesen besonderen Klang der englischen Musiker, als er sie in Konstanz singen und spielen hörte.

Wie entwickelte sich Musik in Asien oder Afrika? Kamen über die Handelsrouten neue Musikinstrumente nach Europa?

Mit den Handelsrouten reisten auch Musik und Musiker. Man nimmt an, dass zum Beispiel der Streichbogen aus Asien nach Europa kam. Die Laute (arab. „Al-Oud") kam aus dem arabischen Raum über das islamische Spanien.

 

Musik im Mittelalter

Heute unterscheiden wir deutlich E- und U-Musik. Gab es diese Aufteilung auch zu Konzilzeiten? Wie kann man sich beispielsweise Musik bei mittelalterlichen Turnieren vorstellen, im Gegensatz zur Musik während der Gottesdienste? Und wie sieht es mit Straßenmusik in den Konstanzer Gassen um 1414 aus?

Die geistliche Musik während des Konzils kann man am ehesten reproduzieren, denn sie wurde auch in Handschriften überliefert, die heutige Spezialensembles wieder zur Aufführung bringen. Kostproben davon konnte man bereits während des Festivals 2014 und 2015 hören. Mit der weltlichen Musik etwa zum Turnier oder in den Straßen und Gassen verhält es sich etwas schwieriger, denn sie wurde fast nie aufgeschrieben, sondern über traditionelle Muster improvisiert, wie heute zum Beispiel im Jazz. Es gibt aber auch hierfür spezielle Ensembles, welche die mittelalterliche Improvisationskunst heute wieder virtuos beherrschen und auch bereits im Konstanzer Festival zu hören waren.

Gibt es heute noch Gegenden auf der Welt, in denen die Musik keine oder wenig Entwicklung durchgemacht hat? Gregorianische Klänge klingen heute doch fast noch so wie damals, oder?

Ja, der Gregorianische Choral ist eigentlich die einzige Musik des europäischen Mittelalters, die heute noch in ihrem ursprünglichen Kontext der Liturgie gepflegt wird, auch wenn er sich über die Jahrhunderte melodisch etwas verändert hat. Andere dem Mittelalter vergleichbare Traditionen kann man noch in musikalischen „Rückzugsgebieten", zum Beispiel in Volksmusik oder außereuropäischer Musik, finden. Ein Beispiel sind beim diesjährigen Festival die Konzerte mit türkisch-osmanischer, griechisch-byzantinischer und russischer Musik: Eine einmalige spannende Hörerfahrung, die man sich nicht entgehen lassen sollte!

 

Hier und heute

Zu guter Letzt: Was ist das Besondere an der Konzertreihe „Europäische Avantgarde um 1400" und warum sollte man sich am besten gleich den Festival-Pass für alle vier Konzerte besorgen?

Die Reihe präsentiert Konzerte, in denen die Musik erklingt, die auch während des Konzils 1414–1418 in Konstanz zu hören war. Nun wird sie aufgeführt von den weltweit besten Interpreten. Der Festivalpass für alle vier Konzerte bietet die Möglichkeit, zu einem fairen Preis all die schöne Musik und die sehenswerte Stadt Konstanz an vier Tagen hintereinander genießen zu können.

Wo liegt in diesem Jahr der thematische Schwerpunkt?

Die Konzerte in diesem Jahr widmen sich den verschiedenen Religionen und ihrer Musik. Das reicht von der Liturgie des Byzantinischen Kaiserhofes, über die Musik des vermutlich beim Konzil anwesenden frankoflämischen Komponisten Guillaume Dufay und den Melodien des osmanischen Hofes bis zu Gesängen aus dem alten Russland. Die letzten beiden Konzerte wurden extra für das Konstanzer Festival zusammengestellt, eine einmalige Gelegenheit also!